DIE ÜBERRASCHENDE MENSCHLICHKEIT ZWISCHEN DEN NOTENZEILEN VON JESUS CHRIST SUPERSTAR

von Roberta Ferrari, Yamaha Music Education System Instruktor und verantwortlich für Pädagogik bei Yamaha in Italien.

Manche Lieder erkennt jeder auf der Welt schon an einem einzigen Wort aus dem Liedtext wieder – man denke an „Imagine“, „Yesterday“, „Mama“ (aus Bohemian Rhapsody), um nur einige wenige zu nennen. In Gethsemane aus Jesus Christ Superstar ist dieses Wort zweifellos WHY. Der hohe Ton voller Schmerz und Verzweiflung, für den dieses Stück allgemein bekannt ist, ist der Höhepunkt, der Punkt der höchsten Anspannung im Stück und fällt genau auf das Wort „WHY?“ – „WARUM?“

Ich möchte Ihnen eine Orientierungshilfe zu dieser Musik mit ihrer recht eigenen, im Grunde aber simplen Form geben. Dabei kann ich nicht umhin, zu einer genaueren Befassung mit dem Text einzuladen. Die ganze Spannung und Ergriffenheit, die einen unweigerlich erfasst, wenn man Gethsemane hört, lässt sich nicht unabhängig vom Textbezug und vom emotionalen Moment des erzählerischen Gesamtzusammenhangs betrachten, in dem Jesus diesen Song singt – und zwar genau dieser Jesus, jener aus Jesus Christ Superstar, der alles andere als ein gewöhnlicher Jesus ist.

Das Musical „Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber mit Liedtexten von Tim Rice war etwas grundlegend Neues, sowohl in gesellschaftlicher als auch in künstlerischer Hinsicht: eine veritable Rockoper. Der Soundtrack verkaufte sich 7 Millionen Mal, und dieser außergewöhnliche Erfolg sowohl des Musicals selbst als auch der Schallplatte führte zur filmischen Umsetzung von 1973, die wir alle kennen.

In diesem Film überlagern sich die Realitäten der Jesusgeschichte und ihrer theatralischen Darstellung durch die Protagonisten einer Hippie-Kommune im Heiligen Land. Diese Gruppe junger Menschen erzählt auf ihre eigene Art die letzte Woche in Jesu Leben. Dabei leiht eine ebenso charismatische wie umstrittene Figur Jesus ihr Gesicht und ihre Stimme: Ted Neeley.

Bei dem Stück, das ich mit Ihnen hören möchte, Gethsemane (I only want to say), möchte ich Sie zu einem bewussteren Hörerlebnis anleiten, wobei ich Sie auf eine Reise durch einige der Emotionen mitnehmen möchte, die aus den Noten klingen, und Ihnen erlebbar zu machen versuche, wie hervorragend die Musik die innere Zerrissenheit Jesu transportiert, der an dieser Stelle des Werks von höchst menschlichen Gefühlen heimgesucht wird.

Sind Sie bereit für diese Reise durch die Emotionen? Legen wir los!

EINLEITUNG

Lange, gehaltene Akkorde unterstreichen gleichsam die Regungslosigkeit dieses Anfangsmoments. Eine Sequenz aus drei Akkorden, die zweimal wiederholt werden, begleitet die Stimme Ted Neeleys, der die Jünger nach dem letzten Abendmahl betrachtet: satt, müde, unter einem Olivenbaum schlafend. Die Emotion dieses Augenblicks ist die EINSAMKEIT. Jesus blickt auf die Schlafenden und fragt sich: „Bleibt keiner von euch wach mit mir?“ Er ruft sie bei ihren Namen, als wollte er sie wecken, wie um zu sagen: „Lasst mich nicht allein.“ Im Hintergrund wirkt zugleich noch die Heiterkeit des vorangegangenen Moments nach. Ein Mollakkord begleitet Jesus, der sich von den Jüngern entfernt, und leitet über zu dem schmerzvollen Moment der einsamen und intimen Reflexion, den das Lied „I only want to say“ darstellt.

Wie bereits angedeutet, folgt dieses Stück nicht der herkömmlichen Liedform. Dennoch können wir seinen Beginn bezeichnen als

STROPHE (A)

Hier beginnt der Dialog zwischen Jesus und seinem Vater. Musikalisch setzt sich diese Strophe aus sechs kleinen musikalischen Phrasen zusammen, die ersten beiden in steigender Sequenz (bzw. in Progression); die eine ist also etwas höher als die andere, um es für Laien etwas einfacher auszudrücken. Die erste Phrase ist „I only want to say“, die zweite, etwas – genauer gesagt einen Ton – höher, „If there is a way“. Darauf folgt eine dritte Phrase, die den Raum nach oben öffnet, zum höchsten Ton der gesamten Strophe, der genau auf das Wort AWAY fällt (take this cup away from me). In den drei kurzen anschließenden Phrasen steigt alles wieder zurück hinab. Dieser Strophenaufbau ist sehr gebräuchlich: Etwas beginnt, entwickelt sich langsam, die Energie der Phrase baut sich auf und wird allmählich wieder zurückgenommen (Geburt, Leben, Tod).

An dieser Stelle des Stücks stehen in der Instrumentation Gitarre und Bass im Vordergrund, noch sehr „soft“, sehr sanft und behutsam, die Musik scheint hier noch nicht zu ahnen, was kommen wird. Interessant ist die Linie des Basses, der in den ersten beiden Phrasen gegenüber der Aufwärtsbewegung der Melodie eine gegenläufige Bewegung durchläuft und auf großartige Art und Weise die Rolle der „absteigenden Basslinie“ übernimmt. In der dritten Phrase (jener, die zum Höhepunkt der Strophe führt) folgt auch der Bass der aufsteigenden Melodie, als suchte er gleichsam den Weg nach oben, wobei sich auch die rhythmische Figuration beschleunigt. Diese erste Strophe gleicht einem Bittgebet, und das Gefühl, das sie vermittelt, ist Unschlüssigkeit, Pein. Eine Art Bewusstwerdung der eigenen Menschlichkeit.

Am Ende dieser Strophe setzt im letzten Takt auf sehr typische Weise das Schlagzeug ein, und es wird die

WIEDERHOLUNG DER STOPHE (A') vorbereitet, diesmal jedoch mit größerer Intensität der Orchestrierung, der Stimme, des Textes, der Gesamtwirkung.

Musikalisch geschieht in dieser zweiten Strophe, abgesehen von der Besetzung, nichts Neues: Es sind die gleichen Töne, die gleichen Harmonien, die gleichen Linien. Es gewinnt schlicht alles an Intensität: Zum Gefühl der Ungewissheit gesellt sich nun die ANGST dazu. In der letzten Phrase jedoch (Could you ask as much from any other man?) kommt jenes Gefühl, jene Emotion auf, die den gesamten folgenden Teil durchzieht: der Wunsch nach AUFLEHNUNG. Dieses Gefühl erscheint im Zuge einer Überleitung von der Strophe zum nächsten Abschnitt, die wir, wenn auch nicht im herkömmlichen Wortsinn, als

BRIDGE bezeichnen könnten. Hier haben wir es erneut mit einer absteigenden Bewegung aller Instrumente (einschließlich der Singstimme) zu tun, diesmal unisono – ähnlich einem Abstieg zu den irdischeren Gefühlen des Menschen. Dabei fällt auf, dass Jesus in szenischer Hinsicht hingegen immer weiter hinaufsteigt, wie um den ständigen Kampf zwischen dem Abstieg einerseits und dem Drang hin zu den „höchsten“ Empfindungen und Idealen andererseits zu versinnbildlichen.

Hier kommt nun eine höchst wichtige musikalische Figur zum Tragen: eine rhythmische Bewegung, die eine Unrast in das Stück bringt und all die Erstarrtheit und den Einklang des vorangegangenen Augenblicks durcheinanderrüttelt. Diese rhythmische Figur ist eigentlich eine Weiterentwicklung und Wiederaufnahme des Grundrhythmus des Liedes der Maria Magdalena (Everything‘s alright). Besagtes Stück, dessen Titel im Grunde einen Augenblick des Friedens und der Ausgeglichenheit erwarten ließe, entwickelt sich vielmehr in die entgegensetzte Richtung und bietet Einblicke in die ersten Momente des Zweifels, der Wut und der Verwirrung innerhalb der Schar der Jünger (Hören Sie es sich an dieser Stelle gerne einmal an.). Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass der Komponist dafür ein Metrum gewählt hat, das sozusagen, keine Sicherheit, keine Stabilität vermittelt: den 5/4-Takt. Als diese Metrik in Gethsemane wiederkehrt, finden wir sie eingepasst in acht Taktschläge und viermal immer lauter wiederholt (I want to know I want to know my God). Die Emotion, die hier zutage tritt, ist die UNRUHE, die Aufregung, das Bangen: Zum ersten Mal kommt das Wort WHY vor, wenn auch hier vorerst noch relativ gefasst.

Wir nähern uns dem Höhepunkt des Stückes: Dorthin und zugleich zum Gipfel jenes Hügels führen uns die Schöpfer des Werks über eine Wiederholung der

BRIDGE und des rhythmischen Abschnitts sowie eine weitere Vergrößerung der Orchestrierung (nunmehr mit dem gesamten Apparat – Streichern, Blechbläsern, Schlagwerk), und auch der Satz wird noch dichter, samt dem hohen Register der Holzbläser. Hier scheint das Orchester alles umfassen zu wollen: weiter Tonumfang, orchestrales Tutti, Landschaft, Erde und Himmel …

Die ersten vier Phrasen des rhythmischen Abschnitts werden dabei immer drängender und „zorniger“, doch das ist noch nicht genug, um die

KLIMAX vorzubereiten. Dazu bedarf es einer weiteren Spannungssteigerung, die mit einem unvorbereiteten Tonartwechsel erzielt wird. Einfach so, auf einen Schlag! Weitere vier Phrasen und … WUT: Jesus erreicht den Gipfel eines Felsenhügels, klettert mit bloßen Händen hinauf, breitet die Arme aus und ruft: WHY (SHOULD I DIE)?

Es folgen mehrere Phrasen (ganze zehn), trotzig, immer wütender und mit immer dichterer Orchestrierung, turbulent und agitiert, über dem gewohnten absteigenden Bass. Die dabei durchlebten Gefühle sind TROTZ, UNGLÄUBIGKEIT, AUFBEGEHREN gegen das eigene Schicksal bis hin zum nahezu Boshaften mit dem Satz JUST WATCH ME DIE!

Hier mündet der Höhepunkt in einen rhythmischen Abschnitt im 5/4-Takt, immer noch mit absteigender Basslinie. Es werden Bilder des Bevorstehenden eingeblendet, wie es in der Kunst dargestellt wird. Die Stimme verstummt, als sei ihr der Atem ausgegangen, als fehlten ihr nach all dieser Qual die Kräfte … Nur das Orchester fährt in angsterfüllter Bewegung im ständigen Crescendo fort, bis zu einer jähen Pause … Stille …

Es kehrt die STROPHE wieder: Alles dünnt sich aus, nur Klavier und Bass verbleiben. Müde, auf Knien und mit gefalteten Händen, singt Jesus kaum noch, es ist eher ein Sprechgesang, mit bebender, erschöpfter Stimme … bis der für mich bewegendste Moment des ganzen Stücks erreicht wird. In der letzten

WIEDERHOLUNG DER STROPHE (A') erhebt sich Jesus und beginnt, in all seiner Würde, in all seiner Größe, wieder aus vollem Hals zu singen. Auch das Orchester verleiht mit einem Streicher-Tutti diesem dramatisch-zarten Moment im Dialog mit Jesus Wärme. Hier breitet Jesus zum zweiten Mal die Arme aus, in der vielleicht schönsten und auf tragische Weise menschlichsten Phrase des gesamten Liedes: I WILL DRINK YOUR CUP OF POISON. Das Gefühl ist hier jenes der ANNAHME.

Das Stück endet in wahrhaft überraschender Weise mit dem Satz TAKE ME NOW, BEFORE I CHANGE MY MIND, und die Musik schließt dabei mit einer alles andere als stabilen Harmonie: Vielmehr endet dieser Moment mit einer harmonischen Auflösung, die man in der Musik als Trugschluss bezeichnet: Davon spricht man, wenn jener Akkord, der den „Schluss“ bilden und ein Gefühl des Abschlusses vermitteln müsste, stattdessen auf einen anderen Akkord fällt, der statt abzuschließen, eine unerwartete Öffnung mit sich bringt (und uns somit „trügt“) und neue Entwicklungen erahnen lässt. Und schon hört man beunruhigende und dissonante Töne einsetzen, die das Bevorstehende ankündigen...

Ich lade Sie ein, sich die wunderschöne Version mit Stefano Bollani anzuhören, einem musikalischen Genie, das es vermag, jede Musik als Ausgangspunkt zu nehmen, neu zu denken und sich zu eigen und damit zu einem Meisterwerk zu machen.

Sie werden hören, dass er mit der Wiederaufnahme des Motivs im 5/4-Takt, eingepasst in acht Schläge, beginnt und dieses dann auf vielfältige Weise weiterentwickelt.

Ich möchte nur noch auf eine weitere recht simple Besonderheit hinweisen, die es bei der Komplexität dieser Version zu verstehen gilt (man könnte eigentlich jeden einzelnen Ton analysieren, aber das würde dann ein Artikel für Musikfachleute): Der Abschnitt mit der absteigenden Basslinie wird von Bollani mithilfe genialer harmonischer Ersetzungen neu harmonisiert. Genießen Sie dieses Hörerlebnis!